Warum steht am Nordhäuser Rathaus ein Roland ?

von Stadtarchivar R. H, W a l t h e r  M ü ll e r
Leiter der Fachgruppe Heimatgeschichte und Ortschronik

Der Roland ist das Wahrzeichen der Stadt Nordhausen.

Es wird kaum einen ortsfremden Touristen geben, der ihn nicht (sofern er eine Kamera bei sich führt) auf die Platte bannt, um daheim einen anschaulichen Bericht geben zu können.
Die markante, rotberockte Figur mit dem martialischen Gesicht und dem erhobenen Schwert wirkt so Jahr für Jahr als zuverlässiger Werber für den Nordhäuser Fremdenverkehr.
Der Nordhäuser selbst sieht in ihm den ewigen Mitbürger, ein Wesen, das nicht etwa nur stumme Wacht an dem Platze hält, wo Beschlüsse über das Wohl und Wehe der Bürgerschaft gefaßt werden, sondern das sich - selbstverständlich in heimischer Mundart - kritisierend und ratend am Zeitgeschehen beteiligt.
Die kleinsten Buben prüfen und diskutieren vor ihm ihre Furchtlosigkeit, und Generation auf Generation trägt ihn als Inbegriff der Heimat mit sich durchs Leben. Immer von neuem erscheinen Name und Bild des Nordhäuser Rolands als Warenzeichen oder als Titel von Veröffentlichungen, wie die vorliegenden Mitteilungen des Kulturbundes ja beweisen.

Gehen wir den Ursachen nach, die ihn zu einem derart beliebten Symbol werden ließen, so stellen wir fest, daß in ihm gewisse Freiheiten der ehemals Freien Reichsstadt verkörpert sind, eines Gemeinwesens also, das unabhängig von adligen Herren, Grafen und Fürsten war, und das sich vor der obersten irdischen Gewalt, dem Kaiser, ähnlicher Vorrechte erfreute, wie jene.
Man hat den Roland geradezu als Wahrzeichen der Freien Reichsstadt bezeichnet.

Daß diese Ansicht nicht ganz zutreffend sein kann, dürfte unseren Heimatfreunden sofort einleuchten, wenn sie an das Vorhandensein der Rolande in Neustadt, Hohnstein und Questenberg denken. Beides sind ja Plätze, die weder im Genuß eines Stadtrechts noch gar der Reichsunmittelbarkeit gestanden haben. Es gibt auch andererseits zahlreiche, ehemals freie Reichsstädte, die nie einen Roland besessen haben. Und Bremen und Hamburg hatten Rolandstandbilder, ehe sie die Rechte einer Freien Stadt erwarben.
Tatsächlich war Nordhausen die einzige, schon im Mittelalter anerkannte Reichsstadt mit einem Roland!

Es ist bemerkenswert, daß bei der sonst so umständlichen, schriftlichen Fixierung der Verleihung von Rechten im Zeitalter des Lehnswesens (Feudalismus) keine Urkunde die Errichtung oder das Vorhandensein eines Rolands erwähnt. In Nordhausen finden wir die älteste Nachricht in einem der 14 handgeschriebenen Bände, die uns der Nordhäuser Arzt und langjährige Bürgermeister
Dr. Konrad Frommann (1616-1706) hinterlassen hat.
In der darin enthaltenen Abschrift eines alten städtischen Erbzinsbuches notiert er unter dem Jahre 1421 auf dem Blattrande eine Abgabe „von dem eckhuse an dem steinwege gein (gegenüber) rulande". Das gleiche Haus (also an der Stelle, wo vor 1945 das Schuhhaus Pabst stand) wird in der nämlichen Abschrift 1376 als „das eckhus vorn an dem holtzmarkte gein dem rathuß" bezeichnet.
Wir dürfen aus diesen beiden Notizen folgern, daß also zwischen 1376 und 1421 ein Roland am Rathause aufgestellt worden ist, (Karl Meyers Hypothese von einer noch älteren Rolands-„Säule" bei dem „Alten Rathaus" (antiquum mercatorium), dem ältesten Rathaus der Nordhäuser Bürgerschaft am westlichen Eingange der Krämerstraße, kann als widerlegt bzw. unbeweisbar angesehen werden.)

Wie dieser Roland ausgesehen hat, wissen wir nicht. Daß er aus Holz war, geht daraus hervor, daß er bei den großen Stadtbränden 1710 und 1712 so mitgenommen wurde, daß der Rat 1717 einen neuen - den heute noch stehenden - anfertigen ließ.
Nach den Ursachen und der Bedeutung der Aufstellung unseres Rolands um das Jahr 1400 würden wir aber vergeblich suchen, wenn uns nicht Forschungen über die etwa gleichzeilige Errichtung des Bremer Roland einige wichtige Hinweise vermittelten.
Der Bremer Rat hatte zu jener Zeit nach jahrelangen politischen Macht- und Prestigekämpfen gegen Lübeck und Hamburg die Anerkennung als „vrye stad" und damit die Uberlegenheit über die genannten Konkurrenten erreicht, und zwar mit Hilfe einiger gefälschter Urkunden. Durch diese Fälschungen sollte der Ursprung alter bremischer Freiheiten bis auf Karl d. Gr. zurückgeführt werden, der als Schöpfer und Wahrer fränkischen Rechts überhaupt galt.

Die Gestalt seines Neffen Roland, die Mitte des 12. Jahrhunderts durch das Rolandslied in Deutschland populär wurde, gab nun auch dem Standbild den Namen, das die Bremer 1404 zum Zeichen ihrer Rechte und Freiheiten vor ihr Rathaus stellten.
Welche Zusammenhänge könnten nun zwischen der annähernd gleichzeitigen Errichtung des Bremer und des Nordhäuser Rolands bestehen?
Es braucht nur erwähnt zu werden, daß Nordhausen sich 1430 bereit fand, der Hanse beizutreten, um auf die wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen beiden Städten zu schließen. Wenn nun auch der Nordhäuser Rat von den Bremer Fälschungen nichts wußte, so mußte ihm doch die suggestive, psychologische Macht des Rolandstandbildes deutlich werden; das ja eben der Ausdruck der kraftvollen und erfolgreichen Politik des Bremer Rats war.

Und gerade in Nordhausen gab es einen wichtigen Grund, alte, verbriefte Rechte, die hier tatsächlich von Kaisern verliehen waren, durch ein solches symbolisches Monument aller Welt sichtbar in Erinnerung zu bringen.
Durch die Nordhäuser Revolution von 1375 und die daher rührende Beteiligung der Kleinbürger am Stadtregiment war der Macht der herrschenden Patriziergeschlechter im Rat erhebliche Einbuße geschehen, Die Erneuerung des alten Bündnisvertrages mit Erfurt und Mühlhausen im Jahre 1400, dem 1416 auch Halberstadt, Aschersleben und Quedlinburg beitraten, diente nicht zuletzt dem Zwecke, die oligarchische Tendenz des Nordhäuser Ratsregiments neu zu festigen.
Die verfassungsmäßigen Befugnisse des Rates beruhten aber, wie die Freiheiten des gesamten Gemeinwesens, auf kaiserlichen Privilegien, und diese galt es, gegen gewisse Neuerungsbestrebungen wieder zu Ansehen zu bringen.

Nun bedeuteten allerdings die im Ratsarchiv verwahrten Pergamente dem gemeinen Manne nichts. Wie ganz anders mußte ein an öffentlichem Markt als Sinnbild altüberkommener Rechtsgewohnheiten aufgestellter Roland auf die Öffentlichkeit wirken!

Wir gehen also wohl in der Annahme nicht fehl, daß der Nordhäuser Roland nach Abschluß der oben erwähnten Verträge errichtet wurde, um, ganz ähnlich wie in Bremen, nach außen hin den Besitz kaiserlicher Privilegien, des Marktrechts, der Eigengerichtsbarkeit und des Münzrechts, nebenher aber einen Sieg und die Machtvollkommenheit des Rates zu dokumentieren.
Der Kaiser duldete die Figur stillschweigend, gab sie doch Kunde von den von ihm verliehenen Rechten, stärkte sie doch das Ansehen des Rates, der diese Rechte verwaltete, und war sie doch zugleich eine Mahnung an Fürsten und Grafen, diese Stadt des Reiches nicht anzutasten.

Daß man im Laufe der Zeiten dann den Roland nur als Schutzpatron des Markt-, Gerichts- und Münzrechts ansah und bezeichnete, ist nach den Nordhäuser Verhältnissen verständlich, für die Deutung seines Ursprungs jedoch nicht ausreichend.
In Bremen beispielsweise spielte das Schiffahrts- und Wasserstraßenrecht eine besondere Rolle.
Es ist hier erstmalig versucht worden, das Herkommen unseres Rolands nicht aus mehr oder weniger mythologischen Quellen, sondern aus den realpolitischen Verhältnissen des beginnenden
15. Jahrhunderts zu erklären. Der Zweck, zu dem er gesetzt war, wurde erfüllt.
Das 15. und noch das 16. Jahrhundert weisen eine geschlossene Kraft des Gemeinwesens, eine Blüte seiner Entwicklung auf.
Und als Symbol jener Zeit, als Kulturdenkmal ersten Ranges, werden wir unsern Roland
(auf nordhäusisch) „verästemieren", so lange wir leben.